Das Mandarinli (Be 4/8 41 - 61) - das erste S-Bahn-Fahrzeug der Schweiz

Geschichte und Stellenwert des Fahrzeugs

S-Bahnen waren in der Schweiz der 1950er- und 1960er-Jahren ausserhalb des Fachpublikums kein Begriff. Die Städte waren im internationalen Vergleich klein, und der Regionalverkehr wurde, da für die Bahnen nicht lukrativ, mit veralteten Fahrzeugen auf veralteter Infrastruktur betrieben. Erst Mitte der 1960er-Jahre kam etwas Bewegung in diese Angelegenheit, als die SBB auf der Strecke Zürich – Meilen – Rapperswil einen Halbstundentakt mit spurtstarken Triebzügen einführten. Die RABDe 12/12 1101 – 1120 «Mirage» kamen 1965 – 1967 in Betrieb. Allerdings verpassten es die SBB, die sehr lange an der universellen Einsetzbarkeit ihrer Fahrzeuge festhielten, damit ein wirkliches S-Bahn-Fahrzeug zu schaffen. Wagenkasten, Einstiege und Innenausstattung stammten direkt vom Einheitswagen I ab, dessen Haupteinsatzgebiet damals im Fernverkehr lag. Die engen Einstiegsverhältnisse der RABDe 12/12 wurden auch sofort in Fachpublikationen bemängelt. Erst im zweiten Anlauf, mit den 1976 in Betrieb genommenen Prototypen RABDe 8/16 2001 – 2004 «Chiquita» gelang den SBB der Bau eines echten S-Bahn-Fahrzeugs, das jedoch keine serienmässige Anwendung fand, weil die Zeit nach den gescheiterten U-Bahn-Plänen in Zürich noch nicht reif war.

Zwischen den Hauptverkehrszeiten stehen vier Mandarinli zusammen  mit dem De 4/4 102 und der Gem 4/4 122 vor dem Depot in Worblaufen, 08.03.1975. (Foto: Dieter Schopfer)
Zwischen den Hauptverkehrszeiten stehen vier Mandarinli zusammen mit dem De 4/4 102 und der Gem 4/4 122 vor dem Depot in Worblaufen, 08.03.1975. (Foto: Dieter Schopfer)

Während derselben Zeit sah sich die Direktion von SZB und VBW unter erheblichem Druck, ihre Bahnen entweder drastisch zu modernisieren oder aufzugeben. Insbesondere die langen Strassenstrecken für die Einfahrt in die Stadt Bern stellten einen für alle Verkehrsteilnehmer unzumutbaren Zustand dar. Der SZB/VBW gelang eine radikale Sanierung der Einfahrt nach Bern von Zollikofen und dem Worblental her; mit den Neubaustrecken Worblaufen – Bern und Papiermühle – Worblaufen, dem Neubau des Bahnhofs Worblaufen und der unterirdischen Einführung in den Bahnhof Bern stand Anfang der 1970er-Jahre eine moderne und zweckmässige Infrastruktur zur Verfügung. Zur modernen Infrastruktur gehörte auch ein modernes Betriebskonzept, das im Hinblick auf sein Inkrafttreten im Mai 1974 den Namen «Plan 74» erhielt. Dieses sah einen S-Bahn-Betrieb im Halbstundentakt auf den Strecken von Bern nach Unterzollikofen, Jegenstorf und Bolligen – Worb vor, ergänzt mit stündlichen Schnellzügen nach Solothurn.

Zu einem modernen Betriebskonzept gehörte auch ein modernes Fahrzeug, im vorliegenden Fall also ein echtes S-Bahn-Fahrzeug. Die bei grossen Bahnen vorherrschende Philosophie des universell einsetzbaren Fahrzeugs war im Fall der SZB/VBW gegenstandslos, weshalb es gelang, ein kompromisslos für den S-Bahn-Verkehr konzipiertes Fahrzeug auf die Schienen zu stellen. Dass diese über 40 Jahre lang ihren strengen Dienst absolvieren konnten, zeugt einerseits von der Weitsicht des Entwurfs und andererseits von der Qualität der Umsetzung.

Der Farbe Orange kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu. 1972 führte die SZB/VBW eine Abstimmung unter den Fahrgästen durch, in der diese unter vier verschiedenen Farben für das künftige Rollmaterial auswählen konnten. 57% der Teilnehmer stimmten für Orange mit einem weissen Zierstreifen. In der Folge propagierte der Verband Schweizerische Transportunternehmungen (VST) diesen Anstrich als Einheitsanstrich für Bahnen mit Strassenstrecken, Trams und Busse. Ausserhalb von Bern stiess dieser Anstrich auf wenig Gegenliebe, meistens kam man über ein Musterfahrzeug nicht hinaus. Nur die WSB und die FLP führten diese Farbgebung bei Bahnen flächendeckend ein, bei der Centovallibahn waren nur die beiden Be 4/8 41 und 42 so gestrichen; in Bern einige Serien von Bussen und Trolleybussen. In Genf waren orange Trams und Busse in grosser Zahl zu finden, allerdings mit einer anderen Farbaufteilung. 1984 übernahm der eben gegründete RBS das mit so viel Erfolg verknüpfte Orange als Hausfarbe.

Technik

Die «Mandarinli» bestanden ursprünglich aus einem Triebwagen in Stahlbauweise, gekuppelt mit einem Steuerwagen in Aluminiumbauweise. Der wagenbauliche Teil wies für Schweizer Verhältnisse etliche Neuerungen auf:

Die Triebdrehstelle waren von denjenigen der ABDe 8/8 4001 – 4004 der MOB abgeleitet, die Laufdrehgestelle von denjenigen der Einheitswagen der Brünigbahn.

Der elektrische Teil entsprach dem damaligen Stand der Technik mit einer elektropneumatischen Hüpfersteuerung mit Anfahr- und Bremswiderständen, ergänzt mit einer Steuerelektronik.

Wichtigste technische Daten im Ursprungszustand:

Baujahr / Erbauer
1974/1977/1978 SIG/BBC
Länge über Puffer
40,00 m
Breite
2,65 m
Tara
48 t
Sitzplätze
128
Stundenleistung
328 kW
Höchstgeschwindigkeit
75 km/h

1974 kamen die Be 4/8 41 – 52 in Betrieb, 1977/78 gefolgt von den Be 4/8 53 – 61. 1978/79 erhielt die FLP die gleichartigen Be 4/8 21 – 25, 1979 die FART die um zwei Abteile kürzeren Be 4/8 41 und 42.

2001/02 kamen die mehrfarbigen Leichtbau-Niederflur-Mittelwagen B 41 – 56 von Stadler in Betrieb, die in ebenso viele Be 4/8 eingereiht wurden. Dadurch erhöhte sich die Sitzplatzzahl auf 184, die Länge auf 58 m und die Tara auf 64 t. Gleichzeitig erhielt die FLP fünf gleiche Mittelwagen zur Verlängerung ihrer Be 4/8. Die Mittelwagen des RBS wechselten den Triebzug im Laufe der Revisionen.

Die bei der Konzeption des Fahrzeugs geübte Weitsicht und die Qualität der Ausführung hatten zur Folge, dass die «Mandarinli» kaum Umbauten über sich ergehen lassen mussten. Im Verlauf der 1990er-Jahre wurden die kontinuierliche Zugsicherung ZSL90 eingebaut und die Sitze mit orangen Kunststoffbezügen durch die heute vorhandenen Stoffpolstersitze ersetzt.

Der Bahnhistorische Verein Solothurn – Bern (BVSB) und die Erhaltung eines Mandarinlis

Die radikale Modernisierung einer tramähnlichen Schmalspurbahn zu einer vollwertigen S-Bahn sorgte ab 1974 für internationale Aufmerksamkeit und diente auch in der Schweiz für manche Privatbahn als Beispiel. Die grosse historische Bedeutung der «Mandarinli» ist in der ganzen Fachwelt anerkannt und auch dem RBS bewusst. Der Erhalt eines «Mandarinli» ist mehr als gerechtfertigt, stösst aber in der derzeitigen Konstellation auf praktische Schwierigkeiten: Für einen Erhalt auf dem RBS-Netz fehlt derzeit ein geschützter Abstellplatz, bis zum Depotneubau in Bätterkinden ist noch eine längere Durststrecke zu überwinden. Zudem kann der RBS grössere Ausgaben für den Erhalt von historischen Fahrzeugen gegenüber den Leistungsbestellern (den Kantonen) nicht rechtfertigen. Ein Erhalt ausserhalb des RBS-Netzes würde eine aufwändige Asbestsanierung erfordern und wegen der Grösse des Fahrzeugs (40 m Länge in zweiteiliger Formation) hohe Kosten für Hallenmieten nach sich ziehen. Der BVSB wird jedoch alle Hebel in Bewegung setzen, um den Erhalt eines «Mandarinlis» zu ermöglichen.

Quellen